Die ersten von KIs gefundenen Medikamente kommen​

Unternehmen wie Insilico Medicine wollen mit KI-Hilfe schneller neue Wirkstoffe finden, vor allem auch solche, auf die die Forschung nicht gekommen wäre.​

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Auf einem Tisch stehen Wassergläser, dahinter ein Laptop; er zeigt das Schema eines Menschen, eine Doppehelix und andere Medizin-verwandte Symbole

(Bild: metamorworks/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Alex Zhavoronkov spielt seit mehr als einem Jahrzehnt mit künstlicher Intelligenz (KI) herum. 2016 ließ der Programmierer und Physiker ein KI-System Menschen nach ihrem Aussehen bewerten und Katzenbilder sortieren. Jetzt hat sein Unternehmen Insilico Medicine, so sagt Zhavoronkov, das erste "echte KI-Medikament" entwickelt, das bereits darauf getestet wird, ob es ein tödliches Lungenleiden heilen kann.

Das Medikament sei etwas Besonderes, weil die KI-Software nicht nur bei der Entscheidung geholfen habe, mit welchem Ziel der Wirkstoff in einer Zelle interagieren sollte, sondern auch die chemische Struktur des Medikaments planen half.

Die allgemeine Hoffnung für KI ist, dass solche Software Forschern neue Behandlungsmöglichkeiten aufzeigen kann, auf die sie selbst nie gekommen wären. Ähnlich wie ein Chatbot, der einen Entwurf für eine Hausarbeit liefern kann, könnte KI die Anfangsphase der Entdeckung neuer Therapien beschleunigen, indem sie Vorschläge macht, welche Ziele Wirkstoffe angreifen sollten und wie diese Medikamente aussehen könnten.

Zhavoronkov sagt, dass beide Ansätze verwendet wurden, um den Wirkstoffkandidaten von Insilico Medicine zu finden. Dessen schneller Fortschritt – es dauerte nur 18 Monate, bis der Wirkstoff synthetisiert und in Tierversuchen getestet war – sei ein Beweis dafür, dass KI die Arzneimittelentdeckung beschleunigen kann. "Natürlich ist das ein Verdienst der KI", sagt er.

In einem kürzlich im Journal "Drug Discovery Today" veröffentlichten Fachartikel schätzen deutsche und Schweizer Wissenschaftler, dass die weltweit führenden Arzneimittelhersteller für jedes neue Medikament, das auf den Markt kommt, sechs Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung ausgeben. Ein Grund dafür sei, dass die meisten Medikamentenkandidaten am Ende floppen. Und der Entwicklungsprozess dauert in der Regel mindestens zehn Jahre.

Ob KI die Suche nach neuen Medikamenten wirklich effizienter machen kann, ist noch offen. Eine andere Studie der Boston Consulting Group (BCG) prognostiziert, dass "KI-native" Biotech-Unternehmen – also solche, bei denen KI im Mittelpunkt ihrer Forschung steht – eine "beeindruckende" Welle neuer Arzneimittelideen vorantreiben. Die Berater zählten 160 Wirkstoffkandidaten, die an Zellen oder Tieren getestet werden, und weitere 15 in frühen Tests am Menschen.

Diese hohe Zahl deutet darauf hin, dass computergenerierte Medikamente alltäglich werden könnten. Die BCG konnte jedoch nicht feststellen, ob die Entwicklung von KI-gestützten Arzneimitteln schneller voranschreitet als die herkömmliche Entwicklung, obwohl die Berater schreiben, dass "eine der größten Hoffnungen für die KI-gestützte Arzneimittelforschung in einer Beschleunigung der Zeitpläne besteht". Bisher gibt es nicht genügend Daten, um das mit Sicherheit zu sagen, da KI-Medikamente noch nicht den Weg zur Zulassung geschafft haben.

Wahr ist jedoch, dass einige computergenerierte Chemikalien für hohe Summen über den Tisch gehen. 2022 verkaufte das Bostoner Pharmaunternehmen Nimbus Therapeutics eine vielversprechende Substanz zur Behandlung von Autoimmun-Krankheiten für vier Milliarden Dollar an den japanischen Pharmariesen Takeda. Das Unternehmen hatte für die Entwicklung der Substanz Computeransätze verwendet, wenn auch nicht ausschließlich KI (die Software modelliert die physikalischen Zusammenhänge zwischen Molekülen). Und letztes Jahr verkaufte Insilico einen ursprünglich von einer KI vorgeschlagenen Wirkstoffkandidaten für 80 Millionen Dollar an das größere Pharmaunternehmen, Exelixis.

"Das zeigt, dass die Leute bereit sind, viel Geld zu zahlen", sagt Zhavoronkov. "Unsere Aufgabe ist es, eine Fabrik für Medikamente zu sein." Zhavoronkov hat eine Erfolgsbilanz bei der Implementierung modernster KI-Methoden, sobald diese verfügbar sind. Er gründete Insilico 2014, kurz nachdem die KI mit sogenannten Deep-Learning-Modellen neue Durchbrüche in der Bilderkennung erzielt hatte. Der neue Ansatz hat frühere Techniken für die Klassifizierung von Bildern und für Aufgaben wie das Auffinden von Katzen in YouTube-Videos weit hinter sich gelassen.

Zhavoronkov erregte zunächst Aufsehen – und auch einige Kontroversen – mit KI-Apps, die das Alter von Menschen errieten, und ein Programm, das Menschen nach ihrem Aussehen einstufte. Seine Software für Schönheitswettbewerbe, Beauty.AI, erwies sich als ein früher Fehltritt in Sachen KI-Voreingenommenheit, als sie kritisiert wurde, weil sie nur wenige Menschen mit dunkler Hautfarbe auswählte.

2016 schlug sein Unternehmen jedoch einen generativen Ansatz für die Entwicklung neuer Medikamente vor. Generative Methoden können auf der Grundlage von Beispielen, auf die sie trainiert wurden, neue Daten erstellen, zum Beispiel Zeichnungen, Antworten oder Lieder, wie es bei der Gemini-App von Google der Fall ist. Gibt man ein biologisches Ziel wie ein Protein vor, so Zhavoronkov, braucht Insilicos Software "Chemistry42" etwa 72 Stunden, um chemische Stoffe vorzuschlagen, die mit diesem Ziel interagieren können. Diese Software ist bereits auf dem Markt und werde von mehreren großen Arzneimittelherstellern verwendet.

Anfang März nun stellte Insilico einen Medikamentenkandidat für idiopathische Lungenfibrose im Fachjournal "Nature Biotechnology" vor. Bei dieser Lungenerkrankung vernarbt das Lungengewebe nach und nach mit tödlichem Ausgang, ohne dass die Ursache dafür bekannt ist. Insilicos KI-Software hatte sowohl das Protein TNIK als mögliches Ziel vorgeschlagen, als auch mehrere Substanzen, die es außer Gefecht setzen könnten. Eine davon wurden anschließend in ersten Sicherheitstests an Zellen, Tieren und schließlich auch am Menschen getestet.

Einige Beobachter bezeichneten die Arbeit als eine umfassende Demonstration der Entwicklung eines Arzneimittelkandidaten mithilfe von KI. "Dies ist wirklich ein komplettes Werk", sagte Timothy Cernak von der Universität von Michigan gegenüber der Zeitschrift "Chemical & Engineering News". Das Medikament wurde inzwischen in Phase-II-Studien in China und den USA getestet, in denen erste Erkenntnisse darüber gewonnen werden sollen, ob es Patienten mit dieser Lungenkrankheit tatsächlich hilft.

Zhavoronkov behauptet zwar, die Chemikalie sei das erste echte KI-Medikament, das so weit fortgeschritten ist, und das erste von einer generativen KI. Allerdings macht die nebulöse Definition von KI es unmöglich, seine Behauptung zu bestätigen.

Einige KI-Skeptiker sagen, dass die Entwicklung von Medikamentenkandidaten nicht der wahre Engpass ist. Die kostspieligsten Rückschläge treten nämlich oft erst in späteren Testphasen auf, wenn sich ein Medikament bei der Erprobung an Patienten nicht bewährt. Bisher ist die künstliche Intelligenz keine Garantie gegen solche Fehlschläge.

Jetzt, da er ein Medikament in Wirksamkeitstests am Menschen hat, räumt Zhavoronkov ein, dass sein Ursprung in einem Computer die verbleibende Reise wahrscheinlich nicht beschleunigen wird. "Es ist wie bei einem Tesla. Von 0 auf 60 ist man sehr schnell, aber danach bewegt man sich mit der Geschwindigkeit des Verkehrs", sagt er. "Und man kann immer noch scheitern."

Zhavoronkov Traum ist es, dass das Medikamentenprogramm weiter voranschreitet und zeigt, dass es Lungenpatienten helfen kann, vielleicht sogar ein Gegenmittel gegen die Folgen des Alterns bietet. "Dann ist man ein Held", sagt er. "Ich möchte nicht einmal, dass man sich an mich wegen KI erinnert. Ich möchte, dass man sich an mich wegen des Programms erinnert."

(jle)