Missing Link: Indiens Software-Brain-Drain kehrt sich um

Indiens digitaler Aufstieg, neue Visa-Regelungen und die starke Nachfrage von Big Tech locken IT-Fachkräfte zurück nach Indien.

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Szene in einem Büro ohne kräftige Farben: 3 Brillenträger, möglicherweise Inder, haben sich an einem Schreibtisch mit Computermonitor versammelt; die Frau (in der Mitte) zeigt auf den Bildschirm

(Bild: Gorodenkoff/Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

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Wenn Sie nach Hyderabad fahren, einst eine unscheinbare Stadt in Indien, die nur für ihre Paläste und Biryani bekannt war, heute eine IT-Metropole, wird Ihnen ein neues Element in der Skyline ins Auge fallen. Ein riesiges Google-Büro wächst schnell und hoch. Offenbar handelt es sich um das größte Google-Büro außerhalb des Hauptquartiers in Mountain View, Kalifornien. Das Google-Gebäude in Hyderabad wird etwa 280.000 Quadratmeter groß sein und soll 18.000 Mitarbeiter beherbergen.

Dies ist nur ein Beispiel für die beispiellosen Investitionen in Infrastruktur und Entwicklungsteams, die fast jedes große Technikunternehmen in Indien tätigt. Es ist interessant, wie das Pendel umgeschlagen hat. Noch vor ein paar Jahren floss der Fluss in die entgegengesetzte Richtung. Der Rattenfänger des Software Brain Drain lockte viele Fachkräfte aus Indien heraus. Die Gründe für das Aufsteigen auf diese frühen, leicht zu erkennenden Wagenzüge waren vielfältig – sie reichten von besseren Gehaltspaketen über hohe Dollarkurse bis hin zu besseren Herausforderungen, besserem Wachstum, besserem Umfeld und, ja, einfacheren Einwanderungsvisa. Heute haben sich die Bedingungen völlig umgekehrt.

Ein Land, das in der schulischen MINT-Ausbildung (Wissenschaft, Technik, Ingenieurwesen, Mathematik) stark ist, das voller junger Menschen ist (die von Eltern aus der Mittelschicht großgezogen werden, welche ihr ganzes Leben lang Wert auf Ingenieurwesen und Mathematik legen) und das als das IT-Powerhouse der Welt bezeichnet wird, hat eindeutig ein Paradoxon durchlebt. Noch vor zwei Jahrzehnten zogen die IT-Köpfe des Landes vor, in den USA und im Vereinigten Königreich bessere Jobs und Wachstumsbedingungen zu finden, anstatt in Indien zu arbeiten. Dies gilt umso mehr, als die indischen Outsourcing-Giganten externe Kapazitäten und spezielle Zentren im Ausland einrichteten. Daran war nicht nur die Anziehungskraft des Dollar-Rupie-Kurses schuld, weiß Veer Sagar.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Sagar ist ein Veteran der indischen IT-Branche, der seine Karriere in den frühen 80er-Jahren mit Führungspositionen bei ICIM (International Computers Indian Manufacture) und DCM Data Systems begann. Später gründete er Indiens ersten unabhängigen Anbieter für medizinische Transkriptionen. Er ist nun seit über 50 Jahren in der Branche tätig und war in den Führungsgremien wichtiger indischer IT-Branchenverbände wie MAIT (Manufacturers Association Information Technology) und NASSCOM (National Association of Software and Service Companies) vertreten. Sagar erzählt, wie sich die Abwanderung früher aufgrund der H1B-Visa für die USA beschleunigte. "Diejenigen, die diese Visa erhielten, waren praktisch abgeschrieben. Sie kamen nur selten zurück. Für viele große IT-Outsourcing-Unternehmen bestand ein Großteil der Einnahmen in jenen Jahren aus Body-Shopping. Sie schickten Leute in die USA für Projekte, die dort durchgeführt wurden. Und das in großem Umfang. Aber heute bekommen viele qualifizierte Fachkräfte nicht mehr die gleichen Chancen wie früher in den USA, weil sich die Visasituation stark verändert hat."

Auch Indien hat sich verändert, sagt Sagar: "Außerdem hatten US-Unternehmen früher Angst, ein Büro in Indien zu eröffnen. Jetzt wissen sie, wie man es macht. Indien ist nicht mehr der Härtefall, der es früher für Expatriats war." Der einst vorherrschende Wunsch indischer IT-Ingenieure/Techniker, "onshore" zu arbeiten, hat sich deutlich verändert, erklärt Krishna Vij von Teamlease Digital, einem Unternehmen für Personallösungen. Ursprünglich durch die Attraktivität höherer Gehälter und das globale Engagement motiviert, hat sich diese Präferenz aufgrund verschiedener Faktoren wie Visabeschränkungen, dem Auftritt von Big Tech in Indien und dem wachsenden Startup-Sektor gewandelt. Das Erlangen von Arbeitsvisa, insbesondere in den USA, ist komplizierter geworden, und das verringert die Attraktivität von Onshore-Projekten.

"Obwohl die Lohnkosten im Land immer noch geringer sind, nimmt dieser Vorteil aufgrund der steigenden Gehälter in Indien und der schwankenden Wechselkurse ab. Vor allem legen Ingenieure jetzt mehr Wert auf Faktoren wie Karrierepfad, Lernmöglichkeiten und Work-Life-Balance, die indische Projekte zunehmend bieten", erklärt Vij. Der Charme der USA hat in vielerlei Hinsicht abgenommen. Die jährliche Umfrage von Internations Expat Insider zeigt die Top-Länder, in denen indische Expatriats von 2018 bis 2023 in der Tech-Branche arbeiten: Deutschland (15 %) liegt an der Spitze, gefolgt von den USA (4 %) und dem Vereinigten Königreich (4 %).

Nach Ansicht von D. Tripati Rao, Seniorprofessor für Wirtschaftswissenschaften und Vorsitzender des Bereichs Geschäftsumfeld am Indian Institute of Management in Lucknow, hat sich der Exodus verlangsamt, allerdings aus Gründen der Störungen infolge der Coronavirus-Pandemie, der globalen Unsicherheit aufgrund des anhaltenden Kriegs und der Unruhen im Nahen Osten. "Darüber hinaus sind die Beschäftigungsangebote aufgrund des Stresses im globalen IT- und Dienstleistungssektor sowie im Bank- und Finanzdienstleistungssektor stark zurückgegangen oder haben eine Pause eingelegt.

Fast alle ausländischen Unternehmen, die in der IT-Liga spielen, haben Niederlassungen in Indien eröffnet. Das gilt auch für traditionelle Outsourcer wie große Einzelhandels-, Automobil- und Bankunternehmen. "Früher ging es nur um Back-Office-Arbeiten, aber jetzt wickeln die Unternehmen umfangreiche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten und große Projekte in Indien ab. Sie sehen, dass Produkte aus Indien kommen. Inder bekommen also mehr bereichernde und herausfordernde Jobs als je zuvor", erklärt Sagar.

Denken Sie an große Namen wie Amazon Web Services (AWS). Von 2016 bis 2022 investierte AWS 3,7 Milliarden US-Dollar in Indien, und plant, bis 2030 dort 12,7 Milliarden Dollar in seine lokale Cloud-Infrastruktur zu investieren, was sich bis 2030 auf insgesamt 16,4 Milliarden Dollar summiert. Sehen Sie sich SAP an: Der deutsche Softwarekonzern teilte im Jahr 2023 mit, dass er seine Investitionen in Indien in den nächsten fünf Jahren verdoppeln wolle.

Medienberichten zufolge baut auch Microsoft seine Rechenzentren in Indien aus. Und nicht nur das. NLBServices schätzt in einem Bericht über Global Capability Centres (GCC, auch bekannt als Global Captive Centres), dass Indien bis 2025 mit insgesamt 2.000 GCCs im Land rechnen kann. GCCs sind Zentren, die von großen multinationalen Unternehmen eingerichtet werden, um nicht nur Geschäftsprozesse auszulagern, sondern auch technische Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung, Engineering sowie IT-Support anzubieten.

Gleichzeitig war ein sprunghafter Anstieg der Dienstleistungsnachfrage aus den wichtigsten globalen Märkten der Grund dafür, dass etwa 34 Prozent der GCCs die Zahl der Einstellungen erhöhten. Die Aktualisierung des Zinnov-NASSCOM-Berichts über das indische GCC-Ökosystem für das erste Halbjahr 2023 zeigt, wie Mercedes-Benz, Volvo, und so weiter, in den indischen GCCs an ihren Produkten und Plattformen auf hohem Niveau arbeiten. Mehr als 1,66 Millionen Inder sind dort in GCCs beschäftigt; eine Zahl, die sich bis 2026 verdoppeln dürfte.

Angesichts des schwierigen globalen Technikmarktes und des Stellenabbaus erkennen viele Fachleute die Vorteile einer Beschäftigung in Indien, meint Devroop Dhar, Mitbegründer der Technikberatungsgruppe Primus Partners: "Das Land steht an der Schwelle zu außergewöhnlichem Wachstum und ist auf dem besten Weg, in naher Zukunft die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt zu werden." Ein weiterer Veränderungsfaktor ist die Zunahme von Start-ups. "Indien verfügt über das drittgrößte Start-up-Ökosystem weltweit, was den Weg für bedeutende Karrieremöglichkeiten ebnet." Start-ups und GCCs bieten traditionell höhere Gehälter als etablierte Technikunternehmen, fügt Dhar hinzu.

Regierungsinitiativen haben ebenfalls dazu beigetragen, Arbeitskräfte zu halten und zurückzuholen, insbesondere nach Durchbrüchen wie dem nationalen Unified Payments Interface, dem Open Networkfor Digital Commerce, dem Open Credit Enablement Network und den Digital Public Goods. Laut dem stellvertretenden Vizerektor des Bengaluru Campus des Gandhi Institute of Technology and Management (GITAM), Dr. KNS Acharya, hat Indiens Jugend in den letzten fünf bis sieben Jahren eine deutliche Neigung zu Unternehmertum und zu Start-up-Gründung gezeigt.

Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass es in Indien eine große Zahl erwerbsloser, aber gut ausgebildeter Menschen gibt. "Unser Hauptaugenmerk sollte auf der Schaffung von Arbeitsplätzen liegen – ob wir dies durch 'Make-in-India', 'Use-in-India' oder 'Scrap-in-India' tun, spielt keine Rolle", schlägt Sagar vor. Professor Rao hat in seinen jüngsten Untersuchungen darauf hingewiesen, dass trotz des beeindruckenden Wirtschaftswachstums Indiens von 2004/05 bis 2017/18 die Schaffung von Arbeitsplätzen hinter dem Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zurückgeblieben ist. Er verweist auch auf das Problem der nicht zum Einsatz gebrachten Fachkräfte.

Vij argumentiert, dass Indien sich der entscheidenden Frage stellen muss, was es mit den in die Heimat zurückgekehrten Fachkräften tut: "Zurückkehrende Experten bringen eine Fülle globalen Wissens mit. Die Herausforderungen bleiben bestehen, von der Überbrückung von Qualifikationslücken über die Förderung der Forschung bis zum Aufbau eines wettbewerbsfähigen Umfelds". Wie aus dem Employment Outlook Survey Q1 2024 der Manpower Group hervorgeht, haben etwa vier von fünf Arbeitgebern Schwierigkeiten, die Fachkräfte zu finden, die sie 2024 benötigen. Indien rangiert auf Platz 7 der Länder, die mit Fachkräftemangel konfrontiert sind.

81 Prozent der Arbeitgeber geben an, dass sie Schwierigkeiten haben, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Mit 87 Prozent ist die IT-Branche am stärksten betroffen. Einem Bericht von Zinnov-NASSCOM zufolge wird Indien bis 2026 mit einem Mangel von 1,4 bis 1,9 Millionen Fachkräften konfrontiert sein. Sagar weist auch darauf hin, dass die Nachfrage nach Arbeitsplätzen in den USA zwar rückläufig ist, die Nachfrage nach Bildungsangeboten aus dem Ausland jedoch stark zunimmt: "Viele indische Studenten stehen heutzutage für ausländische Abschlüsse Schlange."

Ein Bericht von Redseer Strategy Consultants aus dem Jahr 2021 schätzt die Zahl der Inder, die im Ausland studieren, bis 2024 auf fast zwei Millionen. Madhuram Khatri, ein Student der Biomedizintechnik, zieht eine positive Bilanz seines jüngsten Studienaufenthalts in Chicago: "Das Studium im Ausland hat mir die Augen für eine Fülle von Möglichkeiten und Methoden geöffnet, die die Gesundheitsversorgung und die Unterstützung der Mitarbeiter an vorderster Front in Indien und auf der ganzen Welt erheblich verbessern können."

Khatri fasst es prägnant zusammen: "Es geht darum, Brücken zwischen Nationen, Kulturen und Disziplinen zu bauen, um eine gesündere, besser vernetzte Welt zu fördern." Wie das riesige neue Büro von Google in Hyderabad wird auch dieser neue Strom von Geistesblitzen seine Zeit brauchen, um sich zu festigen. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Kinder, die sich von der "Job"-Flöte verzaubern ließen, mit ihren eigenen Liedern zurückkommen – und mit den Rattenfängern, die nun ihnen folgen.

(ds)