Wie Forscher einen mysteriösen Covid-Fall zu sechs Toiletten zurückverfolgten​

Wenn die Überwachung des Abwassers zu einer Jagd auf ein einzelnes infiziertes Individuum wird, wird es ethisch heikel.​

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Vier Toilettenkabinen, bei der zweiten von links steht die Tür offen

(Bild: Marcel Derweduwen / Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Cassandra Willyard
Inhaltsverzeichnis

Es klingt wie die Fragestellung in einem spannenden Rätsel: Wie konnte ein US-Forscherteam eine Covid-Variante von einer Kläranlage im Bundesstaat Wisconsin zu sechs Toiletten in einem einzigen Unternehmen zurückverfolgen? Doch dahinter stecken auch Datenschutzbedenken, die entstehen, wenn man die Kanalisation nutzt, um seltene Viren bis zu ihrer Quelle zurückzuverfolgen.

Das Virus stammt wahrscheinlich von einem einzigen Mitarbeiter, der zufällig eine enorme Menge einer sehr seltsamen Variante ausscheidet. Die Forscher würden diese Person gerne ausfindig machen. Aber was ist, wenn diese Person nicht gefunden werden will?

Vor einigen Jahren war der Virologe Marc Johnson von der Universität von Missouri besessen von den seltsamen Covid-Varianten, die er in Abwasserproben gefunden hatte. Sie waren in mehrfacher Hinsicht merkwürdig: Sie entsprachen keiner der üblichen Varianten und sie zirkulierten nicht. Sie tauchten nur an einem einzigen Ort auf, kamen dort eine gewisse Zeit lang vor und verschwanden dann oft wieder. Das erste Mal tauchte der Ausreißer in Bundesstaat Missouri auf. "Es machte mich verrückt", sagt Johnson. "Ich fragte mich: ‚Was zum Teufel ist hier los?‘" Mit Hilfe von Kollegen aus New York wies er einige weitere nach.

In der Hoffnung, noch mehr Abstammungslinien ausfindig machen zu können, postete Johnson auf Twitter (jetzt X) einen Aufruf für Abwasserproben. So erhielt 2022 im Januar er einen weiteren Treffer in einer Abwasserprobe, die von einer Kläranlage in Wisconsin stammte. Gemeinsam mit David O'Connor, einem weiteren Virologen an der Universität von Wisconsin begann er mit staatlichen Gesundheitsbehörden zusammenzuarbeiten, um das Signal zu verfolgen: von der Kläranlage bis zu einer Pumpstation und dann bis in die Außenbezirke der Stadt, "ein Schacht nach dem anderen", sagt Johnson. "Jedes Mal, wenn es eine Abzweigung in der Straße gab, haben wir überprüft, von welcher Abzweigung [das Signal] kam."

Sie verfolgten einige fragwürdige Spuren. Die Forscher hatten den Verdacht, dass das Virus von einem Tier stammen könnte. Einmal nahm O'Connor Leute aus seinem Labor mit in einen Hundepark, um Hundebesitzer nach Kotproben zu fragen. "Es gab so viele Ablenkungen", sagt Johnson.

Nach der Entnahme von Proben aus etwa 50 Gullys fanden die Forscher schließlich das letzte Gullyloch des Rohrabschnitts, das die Variante aufwies. Sie hatten Glück. "Die einzige Quelle war dieses eine Unternehmen", sagt Johnson. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher kürzlich in der Fachzeitschrift "Lancet Microbe".

Die Überwachung von Abwässern scheint ein relativ neues Phänomen zu sein, das durch die Pandemie entstanden ist, dabei gibt es sie schon seit Jahrzehnten. Ein kanadisches Forscherteam hat mehrere historische Beispiele beschrieben. In einem Fall verfolgte ein Beamter des öffentlichen Gesundheitswesens 1946 einen Typhusausbruch zur Frau eines Mannes zurück, der am Strand Eis verkaufte. Schon damals äußerte der Forscher einige Bedenken. In der Studie wurden weder die Frau noch die Stadt genannt, und er warnte, dass Infektionen wahrscheinlich nicht auf eine Person zurückgeführt werden sollten, "es sei denn, es handelt sich um einen Ausbruch".

In einer ähnlichen, 1959 veröffentlichten Studie führten Wissenschaftler eine weitere Typhusepidemie auf eine Frau zurück, die daraufhin aus der Gastronomie verbannt und schließlich überredet wurde, ihre Gallenblase entfernen zu lassen, um die Infektion zu beseitigen. Eine solche Publicity kann eine "verheerende Wirkung auf den Träger haben", so die Wissenschaftler in ihrem Bericht über den Fall. "Von einer ruhigen und geachteten Bürgerin wird sie zu einer gesellschaftlichen Paria".

Entsprechend brenzlig wurde es, als Johnson und O'Connor das Virus bis zu diesem letzten Schacht zurückverfolgt hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Forscher vermutet, dass diese rätselhafte Virusstämme von Tieren stammen. Johnson hatte sogar eine Theorie entwickelt, bei der es um organischen Dünger aus einer Quelle weiter flussaufwärts ging. Jetzt waren sie auf ein einziges Gebäude beschränkt, in dem ein Unternehmen mit etwa 30 Mitarbeitern untergebracht war. Sie wollten niemanden stigmatisieren oder in seine Privatsphäre eindringen. Aber irgendjemand in dem Unternehmen hatte eine ganze Menge Viren ausgeschieden. "Ist es ethisch vertretbar, es ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen?" fragte sich Johnson.

O'Connor und Johnson hatten von Anfang an mit den staatlichen Gesundheitsbehörden zusammengearbeitet. Sie beschlossen, dass es am besten wäre, sich an das Unternehmen zu wenden, die Situation zu erklären und zu fragen, ob sie freiwillige Tests anbieten könnten. Die Entscheidung war nicht leicht. "Wir wollten keine Panik auslösen und sagen, dass eine gefährliche neue Variante in unserer Gemeinschaft lauert", erklärte Ryan Westergaard, Epidemiologe für übertragbare Krankheiten beim Gesundheitsamt von Wisconsin, gegenüber "Nature". Aber sie wollten auch versuchen, der infizierten Person zu helfen.

Das Unternehmen willigte in einen Test ein, und 19 der 30 Mitarbeiter ließen sich einen Nasenabstrich machen. Sie waren alle negativ. Das könnte bedeuten, dass eine der Personen, die sich nicht testen ließen, die Infektion in sich trug. Oder könnte es bedeuten, dass die massive Covid-Infektion im Darm nicht auf einem Nasenabstrich zu sehen war? "An dieser Stelle würde ich das Achselzucken-Emoji benutzen, wenn wir das per E-Mail machen würden", sagt O'Connor.

Damals hatten die Forscher die Möglichkeit, Stuhlproben auf das Virus zu testen, aber sie hatten keine Genehmigung. Jetzt haben sie eine, und sie hoffen, dass der Stuhl sie zu einer Person führt, die mit einem dieser seltsamen Viren infiziert ist und die ihnen helfen kann, einige ihrer Fragen zu beantworten. Johnson hat etwa 50 dieser kryptischen Covid-Varianten im Abwasser identifiziert. "Je mehr ich diese Stämme untersuche, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass sie sich im Magen-Darm-Trakt vermehren", sagt Johnson. "Es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn das der einzige Ort wäre, an dem sie sich vermehren."

Aber wie weit sollten sie gehen, um diese Menschen zu finden? Das ist noch eine offene Frage. O'Connor kann sich eine schwindelerregende Reihe von Problemen vorstellen, die auftreten könnten, wenn sie ein Individuum identifizieren, das eine dieser seltenen Varianten ausscheidet. Die plausibelste Hypothese ist, dass die Linien bei Personen auftreten, deren Immunsystem gestört ist, so dass sie die Infektion nur schwer eliminieren können. Das wirft eine ganze Reihe weiterer heikler Fragen auf: Was wäre, wenn diese Person zusätzlich zu der seltsamen Covid-Variante auch noch ein geschwächtes Immunsystem aufgrund von HIV hätte? Was, wenn diese Person nicht wusste, dass sie HIV-positiv ist, oder ihren HIV-Status nicht preisgeben wollte? Was wäre, wenn die Forscher sie über die Infektion aufklärten, die Person aber keinen Zugang zu einer Behandlung hätte? "Wenn man sich die schlimmsten Szenarien vorstellt, sind sie ziemlich übel", sagt O'Connor.

Andererseits, so O'Connor, glaube man, dass es viele dieser Menschen in den USA und in der Welt gebe. "Ist es nicht auch eine ethische Verpflichtung, zu versuchen, so viel wie möglich herauszufinden, damit wir den Menschen helfen können, die diese Viren beherbergen?"

(jle)