Zahlen, bitte! Der 52-Hertz-Wal – Einsamster Meeressäuger der Welt?

Kreuzung oder Anomalie? Ein mysteriöser Walgesang fasziniert die Forschung: Das unbekannte Tier singt so hoch, dass ihn die Artgenossen wohl nicht hören können.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 44 Kommentare lesen
Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Seit über 30 Jahren regt der mysteriöse Gesang eines unbekannten einzelnen Wals Meeresforscher zu Spekulationen an: Zwar ähnelt der Gesang dem von Blau- oder Finnwalen, aber die Tonhöhe unterscheidet sich deutlich: Mit 52 Hertz singt das Tier viel zu hoch.

Wissenschaftler spekulieren daher, dass der einzigartige Walgesang entweder von einem Hybriden zweier Walarten entstammt, oder das Tier eine körperliche Anomalie wie einen verformten Klangkörper aufweist. Außerhalb der Forschung bewegt die Menschen viel mehr das Schicksal des Wales: Ist das Tier, das nie eine Antwort auf seine Rufe bekommt, der einsamste Wal der Welt? Die Forschung ist sich da nicht einig.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Wale nutzen Laute zur Beutesuche, Navigation, um mögliche Geschlechtspartner auf sich aufmerksam zu machen oder zur allgemeinen Gruppenkommunikation. Während Zahnwale zumeist mit Klicklauten kommunizieren, sind die Gesänge von Bartenwalen komplexer: Je nach Art und individueller Gruppe können die Gesänge ganze Lieder mit wiederkehrenden Mustern umfassen. Von Forschern werden die Gesänge daher als eigene Sprache eingeordnet.

Bild eines normalen Blauwals. Die Forschung vermutet hinter dem 52-Hertz-Wal einen Hybrid aus Blau- und Finnwal, oder einen Wal mit Körperbehinderungen.

Schall ist unter Wasser ein ideales Kommunikationsmittel: In der Luft breitet sich der Schall etwa 343 Meter pro Sekunde aus, je nach Luftdruck und Umgebungstemperatur. Da die Moleküle im Wasser viel dichter angeordnet sind, breitet sich Schall dort mit über 1484 Metern pro Sekunde mehr als viermal so schnell aus. Je tiefer die Frequenzen, umso besser ist die Ausbreitung.

Der Wissenschaftler, der den Wal mit dem einzigartigen Gesang entdeckte, war der amerikanische Ozeanologe William A. Watkins. Er begann 1958 als wissenschaftlicher Assistent am ozeanografischen Institut von Woods Hole im US-Bundesstaat Massachusetts. Er stieg schnell auf: 1963 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und von 1979 bis 1996 war er leitender Forscher am Institut.

Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war die Erforschung der Walgesänge. Dazu konstruierte Watkins das erste Tonbandgerät, welches Walgesänge aufnehmen konnte, was eine intensivere Forschung ermöglichte und die Gesänge auch einer breiten Öffentlichkeit näher brachte. Walgesänge schafften es sogar auf die Tonträger der Voyager-Sonden.

Ein Glücksfall für die langjährige Erforschung war der Fall des "Eisernen Vorhangs". Im Kalten Krieg wurde die Entdeckung feindlicher U-Boote immer wichtiger. Um russische Unterseeboote orten zu können, setzte die US-Navy ab den 1950er Jahren auf eine Reihe von Unterwassermikrophonen, die systematisch bestimmte Regionen des Meers belauschten.

Mit dem streng geheimen Sound Surveillance System (SOSUS) sollten verdächtige Schiffs- und Schraubengeräusche erfasst werden. Natürlich gingen nicht nur Schiffsbewegungen ins Netz, sondern die Militärs nahmen auch natürliche Geräusche auf. Mit dem Ende der Sowjetunion und der Perestroika gab das US-Militär die Hydrofon-Stationen zur wissenschaftlichen Nutzung frei. Eine Gelegenheit, die sich das Team um William A. Watkins nicht nehmen ließ.

Erstmals entdeckt wurden die Gesänge des 52-Hertz-Wals im Jahr 1989. Von 1992 bis 2004 erforschte Warkins' Team mithilfe der SOSUS-Infrastruktur die Wanderungen des 52-Hertz-Wals. Im Oktober 2004 erschien dazu die Forschungsarbeit "Twelve Years of Tracking 52-Hz whale calls from a unique source in the North Pacific".

Blauwale stoßen normalerweise Töne im Bereich von 15 bis 20 Hertz aus, die Gesänge von Finnwalen liegen im Bereich von 20 Hertz. Im Nordpazifik vor der US-Westküste empfingen die Hydrophone allerdings Töne, die mit 52 Hertz aber dafür viel zu hoch waren.

Ein riesiges Gebiet vor der Westküste der USA: Der Lebensraum, in dem die Gesänge des 52-Hertz-Wals gemessen wurden. Das ist einer der Gründe, weshalb der Wal bis heute noch nicht identifiziert werden konnte.

(Bild: CC BY-SA 3.0, Sucharit)

Der einzigartig klingende Wal bewegte sich dabei zumeist von Nord nach Süd oder West nach Ost und legte pro Tag zwischen 30 und 70 Kilometer zurück. Seine Walgesänge waren leicht ermittelbar und einzigartig, konnten aber keinem bekannten Tier zugeordnet werden.

Während die Wissenschaft über Art und Beschaffenheit des Ursprungstiers rätselt, bewegt das scheinbare Schicksal des Wals die Menschen: Schließlich kennt jeder das Gefühl von Einsamkeit, wenn man ruft und keine Antwort bekommt. Der Wal bekam somit schnell den Ruf als einsamster Wal der Welt.

Die Geschichte von "52" oder "Blue 52", wie der Wal genannt wird, hinterließ auch in der Popkultur Spuren. In Songs von Bands wie BTS und in Kinderbüchern hielt das Schicksal um den anscheinend einsamen Wal Eingang. Im fiktiven Mockumentary-Kurzfilm The Loneliest suchen zwei Forscherinnen nach dem 52-Hertz-Wal.

Ernsthafter beschäftigte sich mit "52" ein Forscherteam um Regisseur Joshua Zeman, der sich 2021 für die Dokumentation in Spielfilmlänge "Der einsamste Wal der Welt" auf die Suche nach "52" macht. Letztlich können auch sie ihn nicht eindeutig identifizieren, aber das Team lernt viel über die Beziehungen von Walen zu Menschen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Das große Problem ist nämlich nicht, dass sich ein Wal über seine Gesänge nicht verständlich machen kann – der Wal ist schließlich seit über 30 Jahren nachweisbar und mit der Zeit sank die Ruffrequenz, was darauf hindeutet, dass er gewachsen und damit gesund ist. Die Wale in sämtlichen Weltmeeren leiden viel mehr darunter, dass täglich mehrere tausend Schiffsschrauben, laute Arbeiten am Meeresgrund oder militärische Ortung durch Sonar die Gesundheit der Tiere beeinträchtigen.

Der Klangteppich überlagert nicht nur ihre Gesänge, die ohne Störquellen theoretisch mehrere tausend Kilometer weit reichen könnten, sondern setzt sie zusätzlich auch noch unter Stress. Neben der Überfischung, dem Walfang, der Umweltverschmutzung und den Schäden durch Schiffskollisionen ist Lärm ein weiterer vom Menschen geschaffener Faktor, der die Populationen von Walen negativ beeinflusst.

Ist der Wal denn wirklich allein? Das ist nicht klar, zumal es Hinweise auf eine zweite 52-Hertz-Quelle gibt, da 2010 in zwei weit voneinander entfernten Orten ähnliche Töne aufgenommen wurden. Sollte das Tier gesund sein und nicht eines unnatürlichen Todes sterben, stehen die Chancen gut, dass die Forschung wohl noch einige Zeit zur Identifikation bleibt: Blauwale könne bis zu 100 Jahre und älter werden.

Watkins bekam wiederum von der popkulturellen Entwicklung nicht viel mit: Er starb im Oktober 2004 im Alter von 78 Jahren, kurz nach Veröffentlichung der 12-Jahres-Studie. Er hinterlässt einen enormen Beitrag an Forschungsdaten über Wale und andere Meerestiere. Ihm zu Ehren wurde eine Online-Datenbank mit Aufnahmen von Walen und anderen Meerestieren geschaffen.

(mawi)