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Chernobyl30: Beklemmende Bilder aus der Todeszone 95 Kommentare

Sascha Steinhoff

Im Jahr 2016 jährt sich die Nuklearkatastrophe in der Ukraine zum dreißigsten Mal. Aus diesem Anlass hat der Fotograf Heiko Roith die Auswirkungen der Strahlen im Sperrgebiet dokumentiert. Menschenleer ist die Todeszone trotz ihrer Gefährlichkeit nicht.

Mit seinem Projekt Chernobyl30 [1] will der Fotograf Heiko Roith [2] der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ein bildgewaltiges Denkmal setzen. Das erste Shooting fand im August 2014 statt, weitere Shootings sind im Herbst und im Winter angesetzt. Im Frühjahr 2015 soll die Reise dann letztmalig in die Ukraine gehen. Das ist im übrigen auch die letzte Gelegenheit den aktuellen Zustand des Unglücksreaktors zu fotografieren. Im Jahr 2015 sollen die laufenden Arbeiten am neuen Sarkophag abgeschlossen sein. Der gigantische neue Betonmantel [3]wird den havarierten Reaktorblock dann vollständig abdecken.

Chernobyl30: Bilder aus der Todeszone (0 Bilder) [4]

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Das Ziel von Chernobyl30 ist es, ein Bildermahnmal zu schaffen, damit die Katastrophe nicht in Vergessenheit gerät. Am 26. April 2015 soll die Wanderausstellung in Nordbayern eröffnet werden. Diese Region wurde damals erheblich von den radioaktiven Niederschlägen in Mitleidenschaft gezogen. Als weitere Stationen der Wanderausstellung sind derzeit Hamburg, München, Phildelphia und Bremen vorgesehen. Am 26. April 2016, also am Jahrestag der Katastrophe soll die Ausstellung der Stadt Tschernobyl übergeben werden, damit die Bilder dort dauerhaft zu sehen sind.

Tschernobyl war der erste Reaktorunfall weltweit, der die Stufe 7 der INES-Klassifizierung [6]erreichte. Das ist die höchste Stufe, also der schlimmstmögliche Unfall (Super-GAU). Ein als unbedenklich angesehener Testlauf geriet in kürzester Zeit völlig außer Kontrolle. Am Ende überhitzte der Reaktor. Mit seiner Explosion wurden große Mengen radioaktiven Materials freigesetzt, die auch im weit entfernten Deutschland noch zu einer erheblichen Strahlenbelastung [7]führten. Die beim Reaktor gelegene Stadt Prypjat [8] wurde komplett geräumt und ist heute eine Geisterstadt. Insgesamt 350.000 Menschen verloren ihre Heimat und mussten umgesiedelt werden.

Das Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor wurde als Sperrgebiet [9]für die Öffentlichkeit geschlossen. Menschen dürfen hier offiziel nicht mehr dauerhaft wohnen. Besucher müssen nach wie vor die Militärkontrollen passieren. Selbstständige Trips in die Sperrzone sind nach wie vor nicht erlaubt. Tschernobyl ist heute ein beliebtes Ziel für Sensationstouristen [10], welche auf geführten Tagestouren durch die Sperrzone geschleust werden.

Graffiti am Shopping Center in Prybiat

Graffiti am Shopping Center in Prybiat

(Bild: Heiko Roith)

Heiko Roith und sein Team hatten keine Tour gebucht. Sie konnten sich mit einer Ausnahmegenehmigung und eigenem Führer relativ frei in der Zone bewegen und Örtlichkeiten fotografieren, die Touristen nicht zugänglich sind.

Menschen dürfen zwar nicht mehr in der Zone leben, aber es gibt trotzdem einzelne Bewohner die nach der Evakuierung zurückgekehrt sind. Es handelt sich vor allem um ältere Bauern, die ihre Gehöfte nicht aufgeben wollten und nun als Selbstversorger in der Heimat ihren Lebensabend verbringen. Sie werden trotz des Verbots geduldet [11].

Davon abgesehen wird immer noch in der Sperrzone gearbeitet, um die Folgen des Reaktorunglücks zu begrenzen. Derzeit arbeiten rund 4000 Arbeiter am neuen Sarkophag, sie pendeln von Slawutitsch in die Zone. Slawutitsch ist eine Retortenstadt, die nach der Katastrophe in 50 Kilometern Entfernung zum Unglücksort aus dem Boden gestampft wurde. Sie ersetzt das verlassene Prypjat, auch in Slawutitsch ist das Kernkraftwerk von Tschernobyl der größte Arbeitgeber [12].

Die Bäuerin Maria verbringt zusammen mit ihrem Mann Ivan ihren Lebensabend in unmittelbarer Reaktornähe. Sie sind nach der damaligen Zwangsumsiedlung wieder zurückgekehrt, leben unter ärmlichsten Bedingungen und ernähren sich vor allem von selbst angebautem, stark verstrahltem Gemüse.

Die Bäuerin Maria verbringt zusammen mit ihrem Mann Ivan ihren Lebensabend in unmittelbarer Reaktornähe. Sie sind nach der damaligen Zwangsumsiedlung wieder zurückgekehrt, leben unter ärmlichsten Bedingungen und ernähren sich unter anderem von selbst angebautem Gemüse.

(Bild: Heiko Roith)

Die Angaben über die Opferzahlen der Katastrophe klaffen je nach politischer Intention extrem stark auseinander. Man findet Angaben zwischen 50 und 125.000 Opfern. Sicher ist eines: Die Katastrophe von Tschernobyl hat das Lebensglück hunderttausender Menschen zerstört, Familien zerrissen, Krankheiten, Mißbildungen und Armut gebracht. Ein ganzer Landstrich verwandelte sich über Nacht in eine NoGo Area. Bei der Evakuierung wurde den Bewohnern damals versprochen, dass sie in drei Tagen wieder in ihre Wohnungen zurückkehren würden. Tatsächlich haben die meisten Evakuierten ihre Heimat nie wieder gesehen. Tschernobyl und die benachbarte Stadt Prypjat wurden durch die Katastrophe de facto komplett ausgelöscht, zumindest was die menschliche Bevölkerung betrifft.

Diese besondere Atmosphäre wollte Heiko Roith mit seinen Fotografien für die Nachwelt konservieren. Wir konnten mit ihm am Telefon sprechen und möchten seine persönlichen Eindrücke vom Reaktor und der Sperrzone wiedergeben. Ihm zufolge ändert sich Atmosphäre spürbar je näher man sich auf den Reaktor zubewegt. Speziell innerhalb des 10-km-Kreises um den Reaktor soll eine eigentümliche Stimmung herrschen. Er berichtet davon, dass er mit seinem Team auf einem Hochhaus in Prypjat stand und es sei unnatürlich still gewesen. In der Sperrzone ist ihm aufgefallen, dass einige Tiere signifikant größer waren als außerhalb. Im Kanal neben dem Reaktor tummeln sich laut Roith riesige Welse [13], die den Rahmen des Üblichen deutlich sprengen. Einzelne Exemplare sollen bis zu drei Meter lang werden. Auch Wildschweine und Wildpferde seien innerhalb der Zone deutlich größer als anderswo. Er berichtet von Wildpferden, die so groß wirkten wie bayrische Kaltblutpferde.

Auch die Pflanzen zeigen noch sichtbare Anzeichen der Katastrophe. Im Red Forest [14], einem Gebiet mit einer extrem hohen Strahlenbelastung, gibt es immer noch viele mißgebildete und mutierte Bäume [15]. Roith hat Bäume gesehen, die verwachsen waren wie Bonsai-Gehölze. Die Stadt Tschernobyl liegt außerhalb der 10-km-Zone um das Kraftwerk, hier halten sich Arbeiter, Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute auf. Laut Heiko Roith ist es eine extrem ruhige und saubere Stadt. Aber der schöne Schein trügt: Auf der Liste des Blacksmith Institute [16] gehört Tschernobyl immer noch zu den zehn Orten mit der höchsten Umweltbelastung weltweit.

Seit der Evakuierung der Menschen erobert hat die Natur dier verlassene Stadt Prybjat wieder zurück.

Seit der Evakuierung der Menschen erobert hat die Natur dier verlassene Stadt Prybjat wieder zurück.

(Bild: Heiko Roith)

Nach 22 Uhr herrscht in Tschernobyl strikte Ausgangssperre. Ein Grund hierfür sind im Sperrgebiet herumstreifende Wölfe. Man will – so wurde es Heiko Roith berichtet – damit verhindern, dass Betrunkene spät in der Nacht auf dem Heimweg von diesen Tieren angefallen werden. Was davon Wahrheit ist und was Legende, ist schwer einzuordnen. Sicher ist jedenfalls, dass der Wolf kein Kuscheltier ist [17]. Im Sperrgebiet ist inzwischen nicht mehr der Mensch die dominante Spezies. Die Natur füllt mit aller Macht die Lücke, welche die evakuierte Bevölkerung hinterlassen hat.

Es gibt nur wenige historische Bilder von den ersten Tagen nach dem Reaktorunglück und dafür gibt es gute Gründe. Zuerst wurde die Katastrophe lange von den Behörden vertuscht, deswegen hat es einige Zeit gedauert bis die ersten Fotografen am Unglücksort waren. Der russische Fotograf Igor Kostin [18] war als einer der ersten Reporter vor Ort. Ein Großteil seiner Bilder war aber komplett unbrauchbar. Grund: Damals fotografierte man noch auf lichtempfindlichem Film, Digitalkameras waren noch nicht marktreif. Die extrem hohen Strahlenbelastung führte dann immer wieder zu komplett schwarzen Bildern. Die wenigen brauchbaren Bilder waren extrem grobkörnig, auch das ist auf die erhöhte Strahlenbelastung zurückzuführen. Auch die Elektronik litt unter der Strahlung, Igor Kostin berichtete von erheblich verkürzten Akkulaufzeiten.

Wer heute in der Sperrzone fotografiert, muss sich mit derartigen Einschränkungen der Ausrüstung nicht mehr beschäftigen. Für den Fotografen selbst gilt das allerdings nicht, denn ein menschlicher Körper ist weniger robust als eine Digitalkamera. Für Heiko Roith und sein Team gehörte auch knapp 30 Jahre nach der Katastrophe ein Geigerzähler zur Standardausrüstung. Erst mit dem Geigerzähler wird die Strahlenbelastung deutlich, denn Radioaktivität wird vom Körper nicht wahrgenommen.

Heiko Roith

Wie andere Besucher auch, durfte auch der Fotograf Heiko Roith (rechts im Bild) das Sperrgebiet nur mit einem Führer betreten.

(Bild: Heiko Roith)

Auch nach der Katastrophe blieb das Kraftwerk im übrigen noch viele Jahre im Betrieb. Der Block 4 wurde durch die Kernschmelze zwar komplett zerstört, aber die Blöcke 1, 2 und 3 wurden weiterhin genutzt. Der letzte Block wurde erst im Jahr 2000 abgeschaltet. Zu einer generelle Wende der Energiepolitik hat die Katastrophe selbst in der Ukraine nicht geführt. Auch nach Tschernobyl wurden weitere Atomkraftanlagen in Betrieb genommen. Der größte Geldgeber für die aktuelle Abdichtung der Reaktorruine durch den neuen Sarkophag ist im übrigen die EU. Die Ukraine ist, und das war im übrigen auch schon vor der Ukraine-Krise der Fall, nicht einmal in der Lage ihren auf Konferenzen zugesagten Anteil an der Finanzierung zu leisten.

Die Mission des Projekts Chernobyl30 ist es daher, die Langzeitfolgen des Atomunglücks im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu halten. Heiko Roith zeigt mit seinen Fotos eindrücklich die wahren Kosten der billigen Energie. (sts [19])


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Links in diesem Artikel:
[1] http://chernobyl30.com/
[2] https://twitter.com/heikoroith
[3] http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article127303332/Alptraum-aus-Rost-bekommt-neue-Huelle-aus-Stahl.html
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_2304924.html?back=2304721;back=2304721
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_2304924.html?back=2304721;back=2304721
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/International_Nuclear_Event_Scale
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Tschernobyl#Kontaminierte_Molke_und_Entsorgungsprobleme
[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Prypjat_%28Stadt%29
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Sperrzone_von_Tschernobyl
[10] https://chernobyl-tour.com/english/
[11] http://www.tagesschau.de/ausland/tschernobyl154.html
[12] http://www.spiegel.de/karriere/ausland/arbeitsplatz-tschernobyl-job-im-katastrophenmeiler-a-896860.html
[13] http://englishrussia.com/2010/07/15/huge-catfish-caught-in-pripyat/
[14] http://en.wikipedia.org/wiki/Red_Forest
[15] http://www.welt.de/wissenschaft/article13222937/Baeume-in-Tschernobyl-mutieren-durch-Strahlung.html
[16] http://de.wikipedia.org/wiki/Blacksmith_Institute
[17] http://www.welt.de/print/die_welt/wissen/article111959349/Das-Maerchen-vom-lieben-Wolf.html
[18] http://www.sueddeutsche.de/politik/fotografen-legende-igor-kostin-ueber-tschernobyl-sie-muessten-doch-laengst-tot-sein-1.1073899
[19] mailto:sts@heise.de