30 Jahre "Die Siedler": Wie der Wuselfaktor die Spielewelt eroberte

Putzige Männchen eroberten 1993 den Amiga und etablierten den Begriff des Wuselfaktors – Geburt einer großartigen Serie, die mit der Zeit ihre Wurzeln vergaß.

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  • Retro Gamer
Inhaltsverzeichnis

Am 30. Juni 1993 erschien Die Siedler erstmals für den Amiga. 30 – Grund genug für uns, einen ausführlichen Rückblick von 2021 zu aktualisieren und neu zu veröffentlichen. In diesem umfassenden Blick zurück berichten Entwickler über die Entstehung der Reihe und die einzelnen Teile werden auf ihre Stärken und Schwächen abgeklopft.

Beim Erscheinen faszinierte Die Siedler als Aufbaustrategiespiel nicht nur mit der Mischung aus einfacher Steuerung und komplexem Wirtschaftssystem, sondern vor allem wegen der niedlichen Grafik. Die kleinen Figuren, die dutzendfach auf dem Bildschirm ihrem Tagewerk nachgingen, begründeten den Begriff des Wuselfaktors. Dem Spiel Die Siedler folgten sieben weitere Teile und Ableger. Die Siedler-Reihe ist bis heute eine der erfolgreichsten deutschen Spieleserien überhaupt, mit einer bis heute treuen Fangemeinde.

"Die Siedler erregte Aufmerksamkeit", erinnert sich Thomas Hertzler, Mitbegründer von Blue Byte. "Es war zudem wie ein Defibrillator für unser Studio, das kurz vor der Pleite stand." Hertzler hatte Blue Byte im August 1988 mit Lothar Schmitt gegründet, im Dachgeschoss von Hertzlers Haus in Mühlheim.

Die Flaggen an den Wachhütten zeigen an, wie nah sie am feindlichen Gebiet stehen

Die beiden hatten zuvor bei Rainbow Arts zusammengearbeitet, dem Herausgeber der Super Mario Bros-Hommage The Great Giana Sisters. "Wir haben uns ziemlich gut verstanden, und so haben wir beschlossen, eine eigene Firma zu gründen", erinnert sich Hertzler. "Jung und naiv, wie wir waren, was sollte da schiefgehen?" Zwei frühe Titel von Blue Byte waren Great Courts im Jahr 1989 (auch bekannt als Jimmy Connors Pro Tennis Tour) und das rundenbasierte Taktikspiel Battle Isle im Jahr 1991, ein Nectaris-Klon.

"Ich mochte Strategiespiele und Lothar Sportspiele", erklärt Hertzler die Wahl. Beide Titel verkauften sich recht gut, insbesondere die deutsche Presse war begeistert. Spielejournalist Winnie Forster adelte Battle Isle in mit 85 % Spielwertung und dem Kommentar: "Für Strategiefans ein Geschenk des Himmels!"

Thomas Herzler: Der Mitbegrüder und später alleinige Chef von Blue Byte erkannte früh das Potenzial von Die Siedler.

Für das nächste Spiel, History Line: 1914–1918, verhandelte Blue Byte seinen Publisher-Vertrag mit Ubisoft neu. Die Mülheimer übernahmen die Veröffentlichung für Deutschland, Österreich und die Schweiz selbst und überließen den Franzosen den Rest Europas. Aber obwohl das Spiel gut bewertet wurde, blieben die Verkäufe bescheiden. Plötzlich war der Druck groß, einen profitablen Treffer zu landen.

Zu diesem Zeitpunkt schickte ein Student namens Volker Wertich eine Demo von Die Siedler an Blue Byte. "Wir haben ihn nach Mülheim eingeladen", sagt Hertzler. "Er lebte im Süden Deutschlands. Das Erste, was uns zu der Demo den Sinn kam, war die Ähnlichkeit zu Populous." Doch diese Ähnlichkeit mit Bullfrogs Götterspiel war nur oberflächlich. Wertichs Programm stellte eine kleine Welt mit komplexem Wirtschaftssystem dar, in der Pixelmännchen alle Waren in Echtzeit hin und her beförderten.

Der Aufbau eines guten Straßennetzes ist das A und O.

"Das sah faszinierend aus", schwärmt Hertzler. Doch die Grafik der Demo war simpel und ohne Sinn für Ästhetik. "Da war nicht viel", erinnert sich Hertzler. "Es gab viel Grün, es gab etwas Braun für die Wege und es gab ein Gebäude. Es hatte einen eher technischen Look." Kurzentschlossen stellten sie Wertich ein, um das Spiel zu Ende zu entwickeln. Das Blue Byte-Team kümmerte sich intern um Grafik und Sound, während Wertich das Spiel in seinem etwa 400 Kilometer entfernt gelegenen Haus programmierte und per Telefon, Fax und Brief mit dem Mülheimer Büro in Kontakt blieb.