50 Jahre Strahlungsmessnetz: Tschernobyl war der Ernstfall

In den 1970er Jahren begann der Aufbau eines landesweiten Messnetzes für radioaktive Strahlung – damals getrieben von der Angst vor einem Atomkrieg.

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Eine Messsonde für die "Ortsdosisleistung" auf einer grünen Wiese.​

Eine Messsonde für die "Ortsdosisleistung" auf der grünen Wiese.

(Bild: BfS)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske

Sie stehen bevorzugt auf flachen Wiesen ohne Bäume im Umkreis von 30 Metern, schmale, graue Stäbe mit einer Verdickung an der Spitze, die etwa einen Meter aus dem Boden ragen. Keine dieser unscheinbaren Anlagen, von denen es in Deutschland rund 1700 gibt, ist mehr als 20 Kilometer von einer anderen entfernt. Zusammen bilden sie ein Sensorennetzwerk, mit dem seit 50 Jahren kontinuierlich die radioaktive Strahlung gemessen wird.

Seit im Jahr 1974 die erste dieser ODL-(Ortsdosisleistung)-Sonden in Holzkirchen (Bayern) in Betrieb genommen wurde, ist die Technik mehrmals erneuert worden. Mittlerweile sei die siebte Sondengeneration im Einsatz, teilt das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) anlässlich des Jubiläums mit. Sie unterscheidet sich von den anfangs installierten Systemen nicht nur durch größere Empfindlichkeit, sondern insbesondere durch eine verbesserte Aufbereitung und Übertragung der Messwerte. So mussten die ersten Sonden noch einzeln per Telefon angewählt werden, um die Daten abzurufen, was jeweils ein bis zwei Minuten dauerte.

Zuständig für das Netzwerk waren zunächst die seit 1957 bestehenden und über die Bundesrepublik verteilten zehn Warnämter. Um einen Überblick über die Gesamtlage zu bekommen, brauchte jedes dieser Warnämter für seinen Bereich damals noch sieben bis acht Stunden. Heute lassen sich die Daten der mittlerweile vom BfS betriebenen ODL-Sonden nahezu in Echtzeit über das Internet abrufen.

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Wie der ehemalige Mitarbeiter Hans Werner Landfried in einem Video des BfS erläutert, waren die Ämter mit Vorräten ausgestattet, um im Ernstfall bis zu zwei Wochen lang von einem Bunker aus operieren zu können. Der Ernstfall trat glücklicherweise bislang nicht ein – jedenfalls nicht der ursprünglich erwartete: Als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt im April 1972 dem Bundestag das Weißbuch zur zivilen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland vorlegte, war der Aufbau des ODL-Messnetzes darin durch die Sorge vor einem Angriff mit Nuklearwaffen motiviert.

"So falsch es wäre", heißt es in dem Dokument, "Sicherheitspolitik als reinen Selbstzweck zu begreifen und nicht zugleich als Voraussetzung einer gelassenen Politik des Ausgleichs, so töricht wäre es, auf Entspannung auszugehen und dabei die militärische Abschirmung der eigenen Existenz zu vernachlässigen. Es wäre aber auch unverantwortlich, die Risiken fortdauernden, ungebremsten Wettrüstens zu unterschätzen."

Eine historische Messeinheit mit Telefonverbindung.

(Bild: BfS)

Von den Risiken der "friedlichen Nutzung" der Kernenergie war damals noch nicht die Rede. Zwar gab es lokale Proteste gegen Kernkraftwerke, doch dabei schien es vorrangig um Standortfragen zu gehen. Die Technologie selbst wurde nicht in Frage gestellt oder gar als Bedrohung eingestuft. Kritiker wie Holger Strohm wurden im Bundestag zwar angehört, konnten die Euphorie über die vermeintlich unerschöpfliche Energiequelle aber nicht spürbar dämpfen.

Auch Strohms Buch "Friedlich in die Katastrophe" stieß zunächst bei über 80 Verlagen auf Ablehnung, wurde nach der Veröffentlichung 1973 in einem kleinen Verlag dann aber rasch zu einer der wichtigsten Informationsquellen der Anti-AKW-Bewegung, die nach der Besetzung des AKW-Bauplatzes in Wyhl im Februar 1975 rasch erstarkte.

Tatsächlich war es dann der Reaktorunfall in Tschernobyl am 26. April 1986, der zum bisher einzigen Mal dazu führte, dass das ODL-Netz erhöhte Radioaktivität messen konnte. So erreichte etwa die Strahlenbelastung in Wörth am Rhein, die normalerweise bei etwa 0,08 Mikrosievert pro Stunde liegt, am 3. Mai 1986 einen Wert von fast 1,2. In der Folge wurde der Zweck des Messnetzes erweitert: Neben den Zivilschutz im Falle eines militärischen Angriffs trat der Umweltschutz mit kontinuierlicher Überwachung der natürlichen und künstlichen Radioaktivität. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden zudem die Warnämter aufgelöst und die Zuständigkeit für das ODL-Netz ging an das BfS.

Die Hoffnungen, mit dem Kalten Krieg sei auch die Bedrohung durch Atomwaffen zu einem Ende gekommen, haben sich jedoch nicht erfüllt. Mittlerweile erscheint die Gefahr eines Atomkriegs wieder ähnlich real wie vor 50 Jahren. Und spätestens mit der Besetzung des ukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja durch russische Truppen sollte deutlich geworden sein, dass militärische und zivile Risiken dieser Art der Energiegewinnung nicht immer klar voneinander zu trennen sind.

Inge Paulini, Präsidentin des BfS, hat daher wohl recht, wenn sie sagt: "Ich bin ganz sicher, dass wir dieses ODL-Messnetz noch viele Jahrzehnte brauchen werden."

(vbr)