Streit um geheime Formeln: Boeing verklagt Virgin Galactic

Boeing und Virgin Galactic haben sich zerstritten. Boeing verlangt Millionen Dollar und die Vernichtung irrtümlich übermittelter Mathe-Formeln.​

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VSS Unity mit Feuerstrahl

Dieses Vehikel kann Virgin Galactic nicht mehr einsetzen. Der Nachfolger ist größer und heißt Delta Class. Er benötigt ein neues Tragflugzeug, um vom Boden abheben zu können.

(Bild: Virgin Galactic)

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Mehr als 25 Millionen US-Dollar fordert Boeing in einer Klage von Virgin Galactic. Boeing wirft dem Raumfahrt-Tourismusunternehmen vor, Rechnungen über 26 Millionen Dollar nicht gezahlt zu haben. Vielleicht noch schlimmer: Virgin Galactic habe zwei Sätze an Dokumenten mit Boeing-Geschäftsgeheimnissen und weigere sich, diese zu vernichten.

Konkret geht es um eine Sammlung mathematischer Formeln, die Boeing irrtümlich an Virgin Galactic geschickt hat, sowie Testdaten über einen bestimmten Verbundwerkstoff, die Virgin Galactic sehen wollte und durfte. Die mathematischen Formeln beschreiben das Verhalten von Flugzeugen und sind Grundlage sowohl für deren Design als auch die Programmierung professioneller Flugsimulatoren. Beide Dokumentensätze sieht Boeing als Geschäftsgeheimnis an. Virgin Galactic weigere sich, die Dokumente zu löschen, und wolle die enthaltenen Informationen sogar in Zusammenarbeit mit einem anderen Partner weiter nutzen. heise online hat die Beklagte zu einer Stellungnahme eingeladen.

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"Wir glauben, dass diese Klage falsch liegt bezüglich der Fakten und des Rechts, und wir werden uns im angemessenen Forum vehement verteidigen", hat ein Sprecher Virgin Galactics heise online mitgeteilt.

Diese ungeprüften Vorwürfe erhebt Boeing in einer am Donnerstag eingereichten Klage vor einem US-Bundesbezirksgericht. Juristisch lauten die Vorwürfe auf Vertragsbruch sowie Veruntreuung von Geschäftsgeheimnissen. Hintergrund ist die gescheiterte Zusammenarbeit der beiden Unternehmen. Virgin Galactic braucht ein neues Flugzeug, das die zukünftigen Raumgleiter "Delta Class" in luftige Höhe heben soll, bevor deren Raketen zünden und zahlende Touristen für einige Minuten nahe an die Grenze zum Weltall befördern soll. Und hoffentlich wieder zurück zur Erde.

Mit grundlegenden Entwicklungsarbeiten beauftragte Virgin Galactic im Februar 2022 Aurora Flight Sciences. Boeing hat Aurora Flight Sciences, einen Spezialisten für autonomes Fliegen, 2017 übernommen. Virgin Galactics Wunsch war, schon 2024 ein neues Trägerflugzeug zu haben, das fünf Jahre lang mehrmals pro Tag fliegen kann. Abgerechnet wurde nach Arbeitsstunden zuzüglich Materialkosten. Die erste Phase sollte maximal knapp 43 Millionen US-Dollar kosten. Aurora stellte dann rund 42,8 Millionen Dollar in Rechnung, wovon der Kunde nur gut 33,5 Millionen Dollar gezahlt haben soll – demnach 9,2 Millionen Dollar zu wenig.

Im Zuge der Arbeiten kamen Auroras Experten zu dem Schluss, dass Virgin Galactics Zeitplan mit kommerziellem Betrieb 2024 unrealistisch sei. Vor 2027 sei nichts zu machen. Der Kunde war nicht erfreut. Anfang 2023 einigten sich die Beteiligten auf einen zweiten Auftrag mit Höchstkosten von rund 19 Millionen Dollar. Die schließlich ergangene Rechnung in Höhe von rund 17,2 Millionen Dollar soll Virgin Galactic nicht bezahlt haben.

Im Zuge der Zusammenarbeit geschah Aurora nach eigenen Angaben ein Missgeschick: Es stellte Virgin Galactic im Mai 2023 zwei Dokumente zur Verfügung, die irrtümlich geheime Formeln samt Variablendefinitionen enthielten. Das fiel aber nicht gleich auf. Erst Mitte Juni informierte Aurora, dass es sich um Boeing-Geschäftsgeheimnisse handle, die zu löschen seien. Der Vertrag verpflichte beide Partner, Unterlagen auf Wunsch des jeweils anderen Partners unverzüglich zu löschen, sagt Boeing. Virgin Galactic vertrete den Standpunkt, Anspruch auf eine Lizenz für die Formeln zu haben, was Boeing in Abrede stellt.

Tatsächlich eine Lizenz erhalten Virgin Galactic für Informationen über den Verbundwerkstoff IM7/8552. Diesen Baustoff empfahl der Flugkonzern seinem Kunden für das geplante Trägerflugzeug. Zusätzlich erhielt Virgin Galactic ein Dokument mit Daten Tausender Tests des Materials IM7/8552 – laut Klageschrift mit dem Hinweis, dass diese Daten geheim und von der Lizenz nicht erfasst seien. Monate später habe Boeing die Löschung begehrt. Virgin Galactic lehne das nicht nur ab, sondern beanspruche darüber hinaus eine Lizenz, die die Offenlegung gegenüber Boeing-Konkurrenten erlauben würde.

Dem kann Boeing nichts abgewinnen, weshalb es Klage auf mehr als 25 Millionen US-Dollar zuzüglich Schadenersatz und Lizenzgebühren für die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen, Abschöpfung unlauterer Bereicherung und Verfahrenskosten führt. Außerdem hat der Kläger eine einstweilige Verfügung beantragt, die Virgin Galactic dazu zwingen würde, die Daten zu löschen, sie nicht weiter zu nutzen und alle Empfänger offenzulegen.

Das zivilrechtliche Verfahren heißt The Boeing Company et Aurora Flight Sciences Corporation v Virgin Galactic und ist am US-Bundesbezirksgericht für das östliche Virginia unter dem Az. 24-cv-00456 anhängig.

Damit treffen einander vor dem US-Gericht zwei Firmen, die in unterschiedlichen Krisen stecken. Vor 25 Jahren hat Virgin Galactic angekündigt, binnen acht Jahren Touristen in den Weltraum zu bringen. Tatsächlich gelang der erste kommerzielle Flug Virgin Galactics erst 2023, der dreifachen Zeit; und dann war nach sechs Flügen schon wieder Schluss. Firmenmitgründer Richard Branson hat kein frisches Geld für Virgin Galactic mehr. Der Aktienkurs des Unternehmens ist in den letzten zwölf Monaten um zwei Drittel gefallen.

Boeing hat bereits 1997 damit begonnen, sich in eine Krise zu wirtschaften. Boeing zog sich sowohl aus der Flugzeug-Entwicklung als auch aus deren Herstellung immer weiter zurück. Stattdessen hat Boeings Management 60 Milliarden US-Dollar für den Kauf eigener Aktien ausgegeben. Dieses Geld fehlt beispielsweise bei der Qualitätssicherung und der Entwicklung einer neuen Generation von Flugzeugen. Stattdessen hat sich Boeing darauf versteift, die bald 60 Jahre alte Boeing 737 immer länger zu machen.

Die Abstürze zweier Boeing-Flugzeuge der Baureihe 737 Max 8 im Oktober 2018 und März 2019 führten damals zwar zu hunderten toten Passagieren sowie Lippenbekenntnissen Boeings, aber offenbar keinem umfassenden Umdenken. Anfang des Jahres riss eine praktisch neue Boeing 737 MAX 9 ein lebensgefährliches Loch. Jetzt schaut die US-Luftfahrtbehörde FAA genauer hin, und Boeing muss seine Führungsriege austauschen.

(ds)